Die Macht der Töne

Verantwortlicher Umgang in der therapeutischen Heilarbeit mit Stimme und Gesang in Seminaren.

Über die heilende Wirkung vom Gesang ist schon viel geschrieben worden (siehe auch l „Die heilende Kraft der Stimme“ in Sein, Ausgabe Okt. 2006).

Über Stimme und Gesang können unmittelbar innere psychische/seelische Prozesse in Gang gesetzt werden, da wir uns selber über dieses Medium ganz direkt begegnen. Die starken Schwingungen beim Singen, speziell von spirituellen Gesängen, können in Menschen intensive Emotionen, Gefühle, Stimmungen auslösen. Sicherlich hat jede/r Teilnehmer/in seine Eigenverantwortung für sich persönlich. Zugleich aber ist es meine Aufgabe als Therapeutin und Seminarleiterin, alle Teilnehmer/innen im Blick zu behalten, um im Prozessverlauf die individuelle Situation, die momentane Befindlichkeit, die ausgelösten Gefühle und Emotionen der TeilnehmerInnen wahrzunehmen und zu begleiten.

Obertonreiche Schwingungen machen glücklich, verändern, heilen. Sie können aber auch Ich-auflösend wirken. Gerade heilendes Singen ist ein besonders starkes Medium und muss sorgfältig dosiert eingesetzt und mit einer hohen Sensibilität begleitet werden. Als Leiterin muss darauf vorbereitet sein, dass alte traumatische Erfahrungen erneut mobilisiert werden können. Meine Aufgabe ist es, verantwortungsvoll vorzugehen und nichts zu forcieren. Durch meine frühere Arbeit als Ärztin in der Psychiatrie sind mir Ausnahmezustände vertraut. Nachfolgende Beispiele aus meiner Seminartätigkeit verdeutlichen das oben Gesagte.

 

Heilende Stimme

Ein Seminar mit dem Schwerpunkt „Heilende Stimme“ bestand aus 22 TN. Am zweiten Seminartag machten wir ein „Besingritual“. Sieben Menschen lagen in der Mitte des Kreises. Der Teilnehmerkreis sang etwa 10 Minuten den Chant „I am a Circle“. Ich spielte dazu die Tampurasaiten des Kotamos. Dieses, dem Monochord ähnliche Musikinstrument, erhöht und verstärkt die Wirkung der Schwingungen.Die TeilnehmerInnen in der Mitte erfuhren diese Session unterschiedlich. Fünf berichteten, dass sie es sehr angenehm fanden. Sie beschrieben u.a. Schweben im Glück, Umgeben sein mit Licht, sich getragen fühlen, zart liebevoll berührt von den Tönen. Zwei Frauen berichteten von starken innerpsychischen Regungen:

Die eine berichtete von einem vertikalen Spaltungsgefühl im Körper. Sie hatte das Gefühl, als ob ihr Körper aus zwei verschiedenen Hälften bestehe. Ich fragte, ob sie das kenne. Ja, sie kenne es. Dieses Spaltungsgefühl war jetzt stärker als sonst und für sie unangenehm. In der Pause sprach ich sie an, ob sie eine Vermutung habe, woher das komme. „Ja“, sagte sie sofort, „meine Mutter ist Alkoholikerin, und das belastet mich sehr. Ich erlebe öfters Gefühle von Spaltung und von einem Panzer in meinem Körper. Ich wage es nicht, diesen aufzulösen. Ich bin erst seit drei Jahren in Therapie.“

Die zweite Frau reagierte zuerst gar nicht, nachdem wir aufgehört hatten zu singen. Von daher sprach ich sie an. Dann sagte sie mühsam mit schwerer Stimme, dass ihre Hände angefangen hatten zu kribbeln, und danach auch ihr ganzer Körper. Jetzt habe sie das Gefühl, über ihrem Körper zu schweben. Das kenne sie nicht, das habe sie vorher noch nie erlebt. Diese Teilnehmerin brauchte einige Zeit um „zurück zu kommen“. Ich bat jemanden aus der Gruppe, ihre Füße zu halten. Die Liegende begann zu weinen. Da wir anschließend in die Mittagspause gingen, konnten sie und wir uns Zeit lassen. Zwei Teilnehmerinnen halfen ihr beim Aufstehen. Sie hatte Mühe zu gehen. Die beiden begleiteten sie während der Pause. Zwei Stunden später sah ich sie wieder.

Ich begann dann die Nachmittagsrunde bewusst mit Disco- und Trommelmusik. Wir tanzten eine halbe Stunde mit viel Stampfen. Danach ging es ihr wieder besser, und sie war wieder „da“. Ich mache oft die Erfahrung, dass diese sogenannten Dissoziationserlebnisse ca. 2 Stunden anhalten. Falsch wäre in solchen Momenten, an diesen Menschen zu rütteln, sie zu irgendetwas zu forcieren oder selber in Panik zu verfallen. Ruhig bleiben, Übersicht bewahren und Vertrauen zu vermitteln ist die zentrale Aufgabe. Diese Prozesse kann man im Allgemeinen als Durchgangsprozesse betrachten, als Heilungsversuche der Seele. Ich weiß und habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Prozesse von Einzelnen für alle TeilnehmerInnen in der Gruppe wichtig sind. Auch Trauer oder Wut, wenn diese hochkommen, sind gewünschte Emotionen, die genauso zum Leben gehören wie Freude. An diesen Beispielen können wir sehen, wie mächtig Töne wirken können. Wie bei jedem Heilmittel geht es beim Singen auch um die richtige Dosierung im richtigen Moment. Singen und auch besungen werden bringt blockierte Energien in eine höhere Schwingung. Emotionen kommen ins Fließen, Schmerzen können sich auflösen. Ein kraftvolles Energiefeld wird aufgebaut, es geschieht Heilung.

 

Carien Wijnen
ISGT - Institut für ganzheitliche Stimmarbeit und Gesangstherapie

 

 

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